DGZ-Newsletter 02 | 2024

Im DGZ-Newsletter werden wissenschaftliche Informationen zur Zahnerhaltung kompakt und verständlich auf den Punkt gebracht. Die Inhalte werden von Expert*innen der deutschen Universitätszahnkliniken verfasst, die exklusiv von interessanten Entwicklungen aus ihrer aktuellen Forschungsarbeit berichten.

In der aktuellen Ausgabe steht unter Neues aus der Forschung eine Studie zu den dynamischen Prozessen während der Polymerisation von Komposit im Selbsthärtungsmodus im Mittelpunkt. Dabei wurden "Undichtigkeiten" beobachtet, die bei der adhäsiven Versiegelung von Wurzelkanälen klinisch von Relevanz sein könnten. Im Expert*inneninterview mit Professorin Dr. Kerstin Bitter aus Halle/Saale geht es um die Verwendung von Wurztelstiften, deren Indikation und Alternativen. Den chirurgischen Weg der Zahnextrusion in vier Schritten stellt Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug in Tipps für die Praxis vor.

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Neues aus der Forschung

Doch nicht richtig dicht? Kompositversiegelung von Wurzelkanälen

Die hier vorgestellte Studie von Professorin Dr. Kerstin Bitter und Kolleg*innen aus dem Bereich der Grundlagenforschung zeigt die dynamischen Prozesse während der Polymerisation von Komposit im Selbsthärtungsmodus. Dabei kommt es zu Ablösungen des Kunststoffmaterials von der Zahnwand. Die Spalten sind im Mikrometerbereich und auf bestimmte Bereiche begrenzt. Die klinische Relevanz dieser „Undichtigkeiten“ ist aktuell noch unklar, zeigt jedoch die bestehenden Herausforderungen bei der adhäsiven Versiegelung von Wurzelkanälen.

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Adhäsiver Verschluss wurzelkanalbehandelter Zähne 

Das Ziel adhäsiv an der Zahnhartsubstanz verankerter Füllungen ist ein spaltfreier Verbund innerhalb der gesamten Kavität, um einer bakteriellen Besiedlung entgegenzuwirken und die Stabilität der Füllung zu erhöhen. Eigenschaften, die auch bei der Versiegelung der Wurzelfüllung aus Guttapercha wichtig sind. Fließfähige Kompositmaterialien sollen irregulär geformte Bereiche, die unter anderem auch im koronalen Anteil des Wurzelkanals auftreten, spaltfrei ausfüllen. Allerdings führt die Volumenschrumpfung von zwei bis sechs Prozent im Zuge der Polymerisation von Komposit zu Spannungskonzentrationen innerhalb des Komposits und an den Grenzflächen zur Zahnhartsubstanz. In Abhängigkeit vom Elastizitätsmodul des Materials, der Kavitätengeometrie sowie der Haftung zur Zahnhartsubstanz können daher Ablösungen und Spaltformationen zwischen Komposit und Zahnhartsubstanz innerhalb der gefüllten Kavität entstehen.

Hochauflösende phasenkontrastverstärkte Mikro-Computerradiographie zur Echtzeitvisualisierung von Füllerpartikeln in Kompositen

In der vorliegenden Untersuchung [1] hat unsere Arbeitsgruppe verschiedene bildgebende Methoden kombiniert, um dynamische Vorgänge während der Polymerisation von Komposit sichtbar zu machen. Wir haben hochauflösende, phasenkontrastverstärkte Radiographie mit Mikro-Computertomographie und digitaler Bildkorrelation kombiniert. Dies ermöglichte uns sowohl die Visualisierung der Füllkörper im Nanometerbereich als auch die Quantifizierung der dynamischen Prozesse und Phasenübergänge innerhalb eines polymerisierenden Kompositmaterials.

Probenherstellung und Untersuchungsmethoden

Die Wurzelkanäle von 20 extrahierten Unterkieferfrontzähnen wurden mit Guttapercha und einem epoxidharzbasierten Sealer gefüllt. Im koronalen Anteil des Wurzelkanals erhielten sie eine drei Millimetertiefe Präparation, die bei einer Gruppe einen Durchmesser von 1,25 mm (D1) und in der anderen Gruppe einen Durchmesser von 1,75 mm (D2) hatte. Die Kavitäten wurden mit einem Stumpfaufbaukomposit gefüllt und 60 Sekunden nach Einbringen des Materials wurde eine Serie von hochauflösenden Röntgenbildern alle drei Sekunden über einen Zeitraum von fünf Minuten aufgenommen, die den Polymerisationsprozess im Selbsthärtungsmodus aufzeichnete. Anschließend wurde eine Mikro-Computertomographie der Proben durchgeführt, die eine dreidimensionale Charakterisierung der Füllung in der Kavität ermöglichte (Abb. 1). Bewegungen des Kompositmaterials wurden sowohl an der Oberfläche der Kavität als auch innerhalb der Kompositmasse mit digitaler Bildkorrelation analysiert.

Abb. 1: Darstellung des experimentellen Vorgehens: Zwei verschiedene Kavitätendurchmesser (1,25 mm und 1,75 mm) im oberen Anteil des Wurzelkanals wurden mit einem Stumpfaufbaukomposit im Selbsthärtungsmodus gefüllt und mit phasenkontrastverstärkter Synchrotronstrahlung wurde nach 80 Sekunden eine Radiographie für 6 Minuten durchgeführt und anschließend eine Mikro-Computertomographie. Die dreidimensionale Darstellung zeigt eine gefüllten Dentinkavität mit einem Durchmesser von 1,25 mm. Komposit, Adhäsiv (weißer Pfeil) und die Ablösung zwischen Adhäsiv und Dentin (roter Pfeil) sind entsprechend gekennzeichnet. © Prof. Kerstin Bitter

Visualisierter Polymerisationsprozess in 2D und 3D

Die Analyse der Radiographien erlaubte eine Differenzierung des Polymerisationsprozesses in zwei Phasen: Die erste Phase der „Verdichtung“ konnten wir in den ersten 90 Sekunden nach Füllungsapplikation beobachten. Dabei bewegten sich die in der Kompositmatrix befindlichen Füllerpartikel und die eingeschlossenen Luftblasen in Richtung Kavitätenboden. In der zweiten Phase der „Stress- oder Spannungsrelaxation“ (Schrumpfung) haben wir die folgenden Phänomene beobachtet:

  • Die eingeschlossenen Luftblasen expandierten.

  • Das Komposit löste sich von der Kavitätenwand; bei 70 Prozent der Kavitäten mit dem geringeren Durchmesser (D1) und bei 30 Prozent der Kavitäten mit dem größeren Durchmesser (D2).

  • Die äußeren Kavitätenwände wurden „nach innen gezogen“ (bei 60 Prozent der D1- und bei 90 Prozent D2-Kavitäten).

  • Es kam zu einem Herausziehen der Guttapercha (um 4,6 ± 1,6 µm bei D1 und um 2,1 ± 1,0 µm bei D2).

Die Oberflächen-Dehnungsanalyse ergab für die D1-Kavitäten 2,8 und für die D2-Kavitäten 2 Prozent.

Zusammenfassung der Ergebnisse

In dieser Arbeit konnten zwei wesentliche Phasen der Kompositpolymerisation im Anschluss an die initiale Gelphase identifiziert werden:

1.) die Verdichtungsphase mit einer viskösen Fließbewegung innerhalb des Kompositmaterials, verdeutlicht durch die erkennbare Bewegung der eingeschlossenen Füllkörper

2.) die Stressrelaxationsphase, die sich durch eine zunehmende Steifigkeit des Kompositmaterials auszeichnete, mit

  • Expansion der eingeschlossenen Blasen

  • Ablösungen Komposits von der Zahnhartsubstanz

  • Verformung der Kavitätenwände nach innen

  • Herauslösen der Guttapercha aus dem Wurzelkanal im Mikrometerbereich

Die Geometrie der untersuchten Kavitäten hatte einen wesentlichen Einfluss auf die Stresskonzentration innerhalb des Kompositmaterials. Bei den größer dimensionierten Kompositfüllungen (D2) war die Haftung an der Zahnhartsubstanz eher gegeben. Wenn es zu Ablösungen kam, begannen diese zumeist am Boden der Kavität am Übergang zwischen Wurzelfüllmaterial und Dentin (Abb. 1, roter Pfeil). Darüber hinaus konnten die auf einzelne Füllkörper im Komposit einwirkenden Kräfte berechnet und ein direkter Zusammenhang zu den beobachteten Spaltbildungen hergestellt werden. Die klinische Relevanz dieser Spaltbildungen ist aufgrund unserer Grundlagenforschung noch nicht absehbar. 

Fazit: Die Studie verdeutlicht, dass adhäsive Füllungen bei ungünstigen Kavitätengeometrien bereits unmittelbar nach der Polymerisation des Kompositmaterials Fehlstellen innerhalb der Kavität, vor allem am Kavitätenboden aufweisen können. Die angewandte Methodenkombination in dieser Studie bildet eine Grundlage für weitergehende Analysen des Polymerisationsprozesses von Kompositmaterialien und der Detektion von Parametern, die den Auswirkungen von Spannungskonzentrationen und möglichen Spaltformationen entgegenwirken können.

Literatur

[1] Bitter K, Fleck C, Lagrange A, Rack A, Zaslansky P. Time-lapse submicrometer particle motion reveals residual strain evolution and damaging stress relaxation in clinical resin composites sealing human root canals. Acta Biomater. 2022;140:350-63. doi: 10.1016/j.actbio.2021.10.052

Autorin: Professorin Dr. Kerstin Bitter, Direktorin der Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie an der Universitätsmedizin Halle

Expert*innengespräch

Wurzelstifte heute: Zurückhaltende Indikation und alternative Methoden

Interview mit Professorin Dr. Kerstin Bitter, Direktorin der Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie an der Universitätsmedizin Halle | Foto: © Universitätsmedizin Halle

Die Indikation für die Verwendung von Wurzelstiften wird heutzutage zurückhaltender gestellt. Bei der Auswahl der Stifte steht nicht primär das Material im Fokus, sondern vielmehr das Ziel, das umgebende Wurzeldentin maximal zu erhalten. Darüber hinaus existieren neben der Verwendung von Stiften noch alternative Methoden, um stark geschädigte Zähne aufzubauen und für eine langfristig erfolgreiche Restauration vorzubereiten.

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Frau Professorin Bitter, in welchen Fällen halten Sie das Setzen eines Wurzelstiftes für indiziert? 

Ein Wurzelstift ist lediglich bei einem hohen Zerstörungsgrad des aufzubauenden Zahnes indiziert. Wenn ein Zahn epigingival frakturiert ist oder nur noch eine Zahnwand steht, ist ein Stift sinnvoll. Bei Frontzähnen und teilweise auch noch bei Prämolaren müssen wir bedenken, dass dort mehr Scherkräfte wirken, die eher einen Stift erfordern. Im Seitenzahnbereich, bei den Molaren, haben wir es hauptsächlich mit okklusalen Kräften zu tun. Dort kommt man in vielen Fällen mit höckerüberkuppelnden Versorgungen im Sinne einer Teilkrone ohne Stift aus oder kann alternativ an eine Endokrone denken. 

Aus welchem Material sollte ein Stift heute sein? 

Es gibt keine klare Materialpräferenz, die sich aus Studien ableiten ließe. Die Stifte aus rigiden Materialien wie Metall oder Zirkonoxid funktionieren im Grunde genauso gut wie die flexiblen aus Glasfaser-verstärktem Komposit. Obwohl die flexiblen Stifte ein ähnliches Elastizitätsmodul wie das Dentin haben, finden wir in klinischen Studien dort nicht weniger Wurzelfrakturen als bei rigiden Stiften wie ursprünglich angenommen wurde.

Wichtiger noch als das Stiftmaterial ist das Prinzip des Ferrule-Effekts, wenn eine Krone geplant ist. Dabei muss bei der Präparation der Zahnstumpf um 1,5 bis 2 Millimeter in der natürlichen Zahnhartsubstanz gefasst sein. 

Sehen Sie dennoch Vorteile von bestimmten Stiften? Welche verwenden Sie in welchen Situationen? 

Stifte, die adhäsiv einsetzbar sind, haben den Vorteil, dass das Stiftbett nicht so tief präpariert werden muss. Etwa bis zur Hälfte der Wurzellänge ist ausreichend. Stifte, die zementiert werden müssen, brauchen eine Stiftbetttiefe bis ins apikale Wurzeldrittel.

Generell ist man bei der Stiftbettpräparation heute zurückhaltender. Substanzschonung ist auch hier das Stichwort. Durch Anwendung von warmen Wurzelfüllungstechniken wie der vertikalen Kompaktion kann nach Füllung der Hälfte des Wurzelkanals direkt der Stift gesetzt werden. Wir versuchen heute eher einen Stift auszuwählen, der zum Wurzelkanal passt, anstatt den Wurzelkanaldurchmesser für den Stift zu erweitern. Eine optimale Passung oder sogar Friktion, wie es früher von Stiften bei konventioneller Zementierung gefordert wurde, brauchen wir aufgrund der adhäsiven Einsetzmethoden nicht mehr.

Ich persönlich nehme bei irregulär geformten Wurzelkanälen gerne individuell anpassbare Posts. Eine Möglichkeit sind Glasfaserbündel aus einzelnen sehr dünnen Fasern. Erst wird fließfähiges dualhärtendes Komposit in den Wurzelkanal eingebracht, dann ein Faserbündel, dessen Fasern sich individuell dem Wurzelkanal anpassen. 

Worauf kommt es bei der Stiftinsertion an? 

Die Kanalwände müssen von Resten des Wurzelfüllmaterials vollständig gereinigt sein. Für die adhäsive Befestigung haben wir es im Wurzelkanal mit erschwerten Bedingungen zu tun. Daher empfehle ich einfache Systeme zu verwenden. Damit meine ich, nach einer Abschlussspülung mit Natriumhypochlorit und EDTA, besser nicht noch mit Phosphorsäure innerhalb des Kanals zu konditionieren, sondern lieber selbstadhäsive und auch keine rein lichthärtenden Systeme zu verwenden. 

Mit welchen anderen Techniken lassen sich auch tief zerstörte Zähne erhalten? 

Da gibt es einmal die chirurgische Extrusion (vgl. Praxistipp von Dr. Ralf Krug in diesem Newsletter, Anmerk. DGZ). Zum anderen die forcierte Extrusion, bei der ein Wurzelrest innerhalb von wenigen Tagen bis zu einer Woche aus der Alveole heraus extrudiert wird. Dazu wird ein kleiner Steg mit verdickten Enden an den Zahnstumpf polymerisiert. Die Nachbarzähne erhalten ebenfalls Haltelemente. Mit Gummibändern wird beides verbunden und der Wurzelrest forciert extrudiert.

Zudem können Zähne, die nur mesial oder distal einen bis nach subgingival reichenden Defekt haben, mit der Proximal Box Elevation versorgt werden. Dabei wird eine Kompositstufe eingebracht, mit der die Präparationsgrenze – zum Beispiel für eine Teilkrone – von sub- nach supragingival verlegt wird. Das ermöglicht das spätere adhäsive Befestigen unter absoluter Trockenlegung. 

Welche Faktoren sind bei den beschriebenen Methoden für die klinische Entscheidungsfindung relevant? 

Für die chirurgische Extrusion braucht es schon eine gewisse chirurgische Expertise der*des Behandler*in. Das Verfahren hat den Vorteil, dass beispielsweise eine Trauma-Situation bei einem Jugendlichen schnell gelöst wird. Zudem lässt sich je nach Lage der Fraktur nicht an jeden frakturierten Zahnstumpf etwas anpolymerisieren. Auch dann ist die chirurgische Extrusion vorzuziehen. Wenn ich allerdings noch etwas an den Zahnstumpf kleben kann und nicht so viel chirurgische Expertise habe, ist die forcierte Extrusion mit Magneten oder Gummibändern eine gute Variante.

Die Proximal Box Elevation ist zum Beispiel bei einer bis nach subgingival reichenden kariösen Läsion gut anzuwenden, wenn von dem übrigen Zahn ansonsten noch viel Substanz vorhanden ist. Allerdings müssen für dieses Verfahren trockene Verhältnisse mittels Matrizentechnik, Teflonband oder Blutstillungsmethoden geschaffen werden, um das Komposit adäquat zu verarbeiten. Wenn das gar nicht möglich ist, müsste man davon Abstand nehmen. 

Frau Professorin Bitter, vielen Dank für das Gespräch. 

Das Interview führte Dr. med. dent. Kerstin Albrecht

Tipps für die Praxis

Zahnextrusion: Der chirurgische Weg

von Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug, Poliklinik für Zahnerhaltung & Parodontologie, Zahnunfallzentrum, Universitätsklinikum Würzburg | Foto: © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Bei tief zerstörten Zähnen, die nicht konventionell restauriert werden können, kann die chirurgische Zahnextrusion als spezielle Zahnerhaltungstechnik in Betracht gezogen werden. Insbesondere bei traumatisierten Zähnen mit ungünstigen Frakturverläufen wie Kronen-Wurzel-Frakturen oder zervikalen Wurzelquerfrakturen kommt diese Technik in Frage. Der Fokus liegt dabei auf Kindern, Jugendlichen im Wachstum und jungen Erwachsenen, bei denen eine Implantation hinausgezögert werden soll und daher der Erhalt des traumatisierten Zahnes besonders wichtig ist. Günstige Voraussetzungen für eine chirurgische Extrusion sind ein einzelner verunfallter Zahn mit langer, nur gering gekrümmter Wurzel in ansonsten intakter Zahnreihe. Die technische Umsetzung zielt darauf ab, die Extrusion axial möglichst schonend durchzuführen, um das Schadenspotenzial für Zellen auf der Wurzeloberfläche zu minimieren.

1. Erstversorgung und Beurteilung des Defekts am tief zerstörten Zahn

Bei einer Kronen-Wurzel-Fraktur kann das koronale Fragment über den radikulären Zahnhartsubstanzanteil oftmals noch am Faserapparat angeheftet sein. Im Rahmen der Erstversorgung genügt meist vorerst eine Reposition und Schienung des Fragments. Zudem sollte als Notfallversorgung eine eröffnete Pulpa pulpotomiert, mit einem Kalziumhydroxidzement abgedeckt und die vorhandene Zahnkrone nach Reposition an einem intakten Nachbarzahn temporär adhäsiv geschient werden (Abb. 1).

Abb. 1: Tiefe Kronen-Wurzel-Fraktur an Zahn 12 mit adhäsiver Fixation der mobilen Zahnkrone am Nachbarzahn im Rahmen der Erstversorgung. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Klinisch spielt die Inspektion der Frakturfläche eine große Rolle. Mobile Kleinstfragmente sind zu entfernen (Abb. 2 und 3). Eine dreidimensionale Bildgebung mittels kleinvolumigem DVT kann zusätzlich zum Einzelzahnfilm wichtige Hinweise auf den genauen Frakturverlauf und das Vorhandensein von Teilfragmenten am bis zum Alveolarknochen reichenden Defektrand liefern. Liegt eine zusätzliche Wurzelfraktur vor, kann der Zahn nicht extrudiert und somit nicht mehr erhalten werden.

Abb. 2: Röntgenologisch sichtbarer Frakturspalt an Zahn 12 bei Kronen-Wurzel-Fraktur. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 3: Tief zerstörter Zahn 12. Nach Abnahme des koronalen Fragments kann insbesondere die palatinal gelegene subgingivale Defektgrenze beurteilt werden. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

2. Die Technik der „chirurgischen Koronalverlagerung“

Die chirurgische Extrusion ermöglicht es, die Zahnwurzel um wenige Millimeter nach koronal zu verlagern und in einer Position einheilen zu lassen, die bessere Bedingungen bietet, den Zahn stabil zu restaurieren. Im Idealfall verlässt die Zahnwurzel – wie im vorliegenden Fall – nie komplett die Alveole. Es kann allerdings auch nötig sein die Zahnwurzel zunächst vollständig aus der Alveole zu entfernen, um sie eventuell zu begutachten und unmittelbar danach in einer koronaleren Position zu replantieren (hier um 180 Grad gedreht). Für eine schonende Entfernung muss in der Regel eine spezielle Zugschraube in den Wurzelkanal fingerfest eingedreht werden. Mit Hilfe einer speziellen Apparatur (zum Beispiel der Benex-II-Extractor, Helmut Zepf GmbH; Easy X-Trac System, A. Titan Instruments) wird die für die schonende Zahnextrusion erforderliche axiale Zugkraft auf die im Wurzelkanal verankerte Schraube möglichst kontrolliert übertragen [1]. Bei Zähnen mit relativ kurzer Wurzel (zum Beispiel bei lateralen oberen oder unteren Inzisivi) kann vorab der Versuch unternommen werden, eine Hedströmfeile fest im Wurzelkanal zu verklemmen und daran zu ziehen (Abb. 4).

Abb. 4: Koronalverlagerung der Zahnwurzel in einen restaurierbaren Bereich. In diesem Fall gelang es, die leicht gelockerte Zahnwurzel mit Hilfe einer Hedströmfeile zu extrudieren. Der palatinale tiefe Defekt zeigt nach Drehung der Wurzel um 180 Grad nun nach labial. Die gesamte Frakturfläche sollte sich nach der Replantation möglichst vollständig supragingival befinden. Die Schmelzätzung der Labialflächen der Nachbarzähne dient als Vorbereitung für eine Schienung. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

3. Die Schienungsphase

Nach vollständiger Extrusion und Replantation wird die Zahnwurzel mittels adhäsiver Draht-Schienung an den beiden Nachbarzähnen in einer koronaleren Position befestigt (Abb. 5). Vor definitiver Schienung sollte die Zahnwurzel in der gewünschten Ausrichtung durch in den Approximalraum eingebrachte Holzkeilchen fixiert werden. Anschließend wird eine labiale Zahnfacette aus Komposit gestaltet (Abb. 7 und 8), um die Einheilungszeit der verlagerten Zahnwurzel ästhetisch ansprechend zu überbrücken. Die Schienungszeit beträgt je nach Extrusionsausmaß sechs bis acht Wochen. In dieser Zeit kann die endodontische Behandlung einschließlich der Wurzelkanalfüllung erfolgen.

Abb. 5: TTS-Schienung (TTS = Titanium Trauma Splint) unmittelbar nach Extrusion und Adaptation der Papillen mit Seralon 5-0. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 6: Einheilung der koronal verlagerten Zahnwurzel unter Schienung und medikamentöser Einlage von Kalziumhydroxid im Wurzelkanal. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

4. Rekonstruktive Phase und Heilungsvorgänge nach Extrusion

Mit Entfernung der Schienung sollte der parodontal eingeheilte Zahn nur noch eine geringfügige Lockerung aufweisen. Die Zahnkrone kann nun mit Komposit oder einem laborgefertigten Langzeitprovisorium rekonstruiert werden (Abb. 7). Die klinische Erfahrung zeigt, dass in den ersten drei Monaten in dieser Zahnregion noch weitere An- und Umbauvorgänge der Hart- und Weichgewebe stattfinden können. In der Literatur sind nach chirurgischer Extrusion gute biologische Resultate mit äußerst geringem Risiko für das Auftreten progressiver Wurzelresorptionen oder marginalem Knochenverlust beschrieben worden [2, 3]. Eine definitive Rekonstruktion der Zahnkrone kann meist nach sechs Monaten erfolgen (Abb. 8 bis 11).

Abb. 7: Direkte Restauration der Zahnkrone des Zahnes 12 mit Aufbau der palatinalen Rückwand. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 8: Fertiggestellte Kompositversorgung an Zahn 12. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 9: Kontrolle nach 1 Jahr von palatinal mit stabil eingeheiltem Zahn 12. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 10: Kontrolle nach 1 Jahr von labial mit reizfreier Schleimhaut. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Abb. 11: Kontrolle nach 3 Jahren mit physiologischem Parodontalspalt. © Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug

Fazit 

Die chirurgische Extrusion stellt bei korrekter Indikation und technischer Durchführung eine nützliche Therapieoption für den Erhalt von tief zerstörten Zähnen, vor allem nach Zahnunfall, dar. Vorab sollte stets eine kritische Kosten-Nutzen-Analyse erfolgen und Alternativen wie zum Beispiel die chirurgische Kronenverlängerung oder die kieferorthopädische Extrusion in Betracht gezogen werden. 

Literatur 

[1] Krug R, Connert T, Soliman S, Syfrig B, Dietrich T, Krastl G. Surgical extrusion with an atraumatic extraction system: a clinical study. J Prosthet Dent. 2018;120(6):879-85. doi: 10.1016/j.prosdent.2018.02.006

[2] Das B, Muthu MS. Surgical extrusion as a treatment option for crown-root fracture in permanent anterior teeth: a systematic review. Dent Traumatol. 2013;29(6):423-31. doi: 10.1111/edt.12054

[3] Elkhadem A, Mickan S, Richards D. Adverse events of surgical extrusion in treatment for crown-root and cervical root fractures: a systematic review of case series/reports. Dent Traumatol. 2014;30(1):1-14. doi: 10.1111/edt.12051

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